Wilhelm Reichs Kernaussage

 

Die Theorie der sexualökonomischen Lebensforschung

Die Theorie der sexualökonomischen Lebensforschung ist in wenigen Sätzen zu fassen:

Die seelische Gesundheit hängt von der orgastischen Potenz ab, das heißt vom Ausmaß der Hingabe- und Erlebnisfähigkeit am Höhepunkt der sexuellen Erregung im natürlichen Geschlechtsakt. Ihre Grundlage bildet die unneurotische charakterliche Haltung der Liebesfähigkeit. Die seelischen Erkrankungen sind Folgen der Störung der natürlichen Liebesfähigkeit. Bei orgastischer Impotenz, unter der die überwiegende Mehrzahl der Menschen leidet, entstehen Stauungen biologischer Energie, die zu Quellen irrationaler Handlungen werden. Die Heilung der seelischen Störungen fordert in erster Linie die Herstellung der natürlichen Liebesfähigkeit. Sie ist von sozialen Bedingungen ebenso abhängig wie von psychischen.

Die seelischen Krankheiten sind Ergebnisse der gesellschaftlichen Sexualunordnung. Diese Unordnung hat seit Jahrtausenden die Funktion, die Menschen den jeweils vorhandenen Seinsbedingungen psychisch zu unterwerfen, die äußere Mechanisierung des Lebens zu verinnerlichen. Sie dient der seelischen Verankerung der mechanisierten und autoritären Zivilisation durch Verunselbstständigung der Menschen.

Die Lebenskräfte regeln sich natürlicherweise selbst ohne Zwangspflicht oder Zwangsmoral; beide sind sichere Anzeichen für vorhandene anti-soziale Regungen. Die antisozialen Handlungen entstammen sekundären, durch die Unterdrückung des natürlichen Lebens entstandenen Trieben, die der natürlichen Sexualität widersprechen.

Der lebens- und sexualverneinend erzogene Mensch erwirbt eine LUSTANGST, die physiologisch in chronischen Muskelpanzerungen verankert ist. Die neurotische Lustangst ist die Grundlage der Reproduktion der lebensverneinenden, Diktatur begründenden Weltanschauungen durch die Menschen selbst. Sie ist der Kern der Angst vor selbstständiger, freiheitlicher Lebensführung. Dies wird die wichtigste Kraftquelle jeder Art politischer Reaktion, der Herrschaft von Einzelpersonen oder Gruppen über die Mehrheit der arbeitenden Menschen. Sie ist bio-physiologische Angst und bildet das Kernproblem des psycho-somatischen Forschungsgebietes. Sie war bisher das größte Hindernis im erforschen der unwillkürlichen Lebensfunktionen, die der neurotische Mensch nur unheimlich und angstvoll erleben kann.

Die charakterliche Struktur des heutigen Menschen, der eine sechstausend Jahre alte patriachalisch-autoritäre Kultur fortpflanzt, ist durch charakterliche Panzerung gegen die innere Natur und gegen die äußere gesellschaftliche Misere gekennzeichnet. Sie ist die Grundlage von Vereinsamung, Hilfsbedürftigkeit, Autoritätssucht, Angst vor Verantwortung, mystischer Sehnsucht, sexuellem Elend, neurotisch-hilfloser Rebellion ebenso wie krankhaft-widernatürlicher Duldsamkeit. Die Menschen haben sich dem Lebendigen in sich feindselig entfremdet. Diese Entfremdung ist nicht biologischen, sondern sozial ökonomischen Ursprungs. Sie fehlt in den Stadien der Menschheitsgeschichte vor der Entwicklung des Patriarchats.

An die Stelle der natürlichen Arbeitsfreude und Tätigkeit ist seitdem die Zwangspflicht getreten. Die durchschnittliche Struktur der Menschenmasse veränderte sich im Sinne der Ohnmacht und Lebensangst, so dass autoritäre Diktaturen sich nicht nur durchsetzen, sondern sogar mit Berufung auf vorhandene menschliche Haltungen, wie Verantwortungslosigkeit und Kindlichkeit, rechtfertigen können. Die internationale Katastrophe, die wir durchleben, ist die äußerste Konsequenz dieser Lebensentfremdung.

Die Zentralstelle der autoritären Strukturierung der Menschenmasse ist nicht die natürliche Elternliebe, sondern die autoritäre Familie. Ihr Hauptmittel ist die Unterdrückung der Geschlechtlichkeit des Kleinkindes und des Puberilen.

Natur und Kultur, Trieb und Moral, Sexualität und Leistung wurden infolge der Spaltung der Menschenstruktur unvereinbar. Die von jeher ersehnte Einheit und Widerspruchslosigkeit von Kultur und Natur, Arbeit und Liebe, Moral und Geschlechtlichkeit bleibt ein Traum, solange die Menschen die biologische Anforderung der natürlichen (orgastischen) Sexualbefriedigung nicht zulassen. Solange bleiben auch echte Demokratie und verantwortungsbewusste Freiheit Illusion. Hilflose Unterwerfung unter die chaotischen gesellschaftlichen Umstände prägen die menschliche Existenz. Es herrscht die Tötung des Lebendigen in Zwangserziehung und Krieg.